In seiner Eröffnungsrede zum Nationalen Volkskongress verkündete der chinesische Ministerpräsident Wen Jiabao für das laufende Jahr ein offizielles Wachstumsziel von 7,5 %. Die Märkte reagierten zunächst negativ. Christian Hofmann, den ich auf meiner Erkundungsreise in China im März 2010 persönlich kennenlernte, ist Senior Advisor des auf China spezialisierten Fonds FIVV-Aktien-China-Select-UI und beurteilt die Entwicklung differenzierter. Ich zitiere aus seinem jüngsten Marktkommentar:
China will den heimischen Konsum stärken
„China senkt seine Konjunkturprognose“ flimmerte es über die Nachrichtenticker – und schon rutschten die Aktienindizes dieser Welt ins Minus. Dabei hätte das, was Ministerpräsident Wen Jiabao in seiner Rede zur Eröffnung des Nationalen Volkskongresses in Peking verkündete, eigentlich niemanden überraschen sollen. Vor ziemlich genau einem Jahr nämlich hatten, an gleicher Stelle, die Delegierten des Nationalen Volkskongresses einem Wachstumsziel von 7% für den aktuellen Fünf-Jahres-Plan zugestimmt. Unter dem Motto „Qualität statt Quantität“ sollte es zwischen 2011 und 2016 nicht mehr ausschließlich um die Erreichung immer neuer Wachstumsrekorde gehen. Vielmehr sollte sozialem Ausgleich und ökologischer Nachhaltigkeit ein deutlich höherer Stellenwert eingeräumt werden. China hatte sich entschieden, freiwillig auf die Wachstumsbremse zu treten, wollte unabhängiger von Investitionen und Exporten werden und den heimischen Konsum stärken. Dass Wen für das laufende Jahr nun ein offizielles Wachstumsziel von 7,5% nennt, ist eigentlich nur konsequent.
Veröffentlichte Planzahlen markieren die Untergrenze
Dass offizielle Wachstumsziele in China keinesfalls als Prognosen, sondern vielmehr als die absolute Untergrenze eines angestrebten BIP-Anstiegs zu verstehen sind, sollte längst klar sein. Bereits für den abgelaufenen Fünf-Jahres-Plan 2006-2010 hatte das offizielle Wachstumsziel lediglich 7,5% betragen. Die tatsächlichen Wachstumsraten haben diese Ziele allerdings durchweg übertroffen – zuletzt mit 10,4% in 2010 und 9,2% in 2011. Für das laufende Jahr bleiben die meisten Volkswirte dann auch bei Wachstumsprognosen zwischen 8% und 8,5%. Unserer Meinung nach absolut realistisch und ein mehr als ordentlicher Wert für die mittlerweile zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt!
Mehr Spielraum für Reformen
Genauso sicher wie quantitative Wachstumsziele regelmäßig übertroffen werden, wurden Ziele zur Verbesserung der Qualität des Wachstums in der Vergangenheit meist verfehlt. Übrigens kam auch dies in der Eröffnungsrede Wen Jiabaos zur Sprache. In Sachen Preisstabilität zum Beispiel, aber auch im sozialen Wohnungsbau und bei der Steigerung der Energieeffizienz seien die Zielvorgaben im vergangenen Jahr nämlich nicht erreicht worden. Mit ihrer neuen Wachstumsvorgabe verschafft sich die chinesische Führung somit vor allem selbst mehr Spielraum zur konsequenteren Umsetzung dringend nötiger Reformen. Allem voran geht es darum, den relativen Wachstumsbeitrag der privaten Konsumnachfrage zu steigern – ein Vorhaben, das per Definition auch zu einem niedrigeren Gesamtwachstum führen muss. Was bleibt, ist die Frage nach dem genauen Anpassungsprozess in dieser Richtung. Denn implizit bedeutet die relative Aufwertung des privaten Konsums ja nichts anderes, als den Einkommenstransfer von Unternehmen und (lokalen) Regierungen an private Haushalte. Ein in erster Linie verteilungspolitisches Unterfangen also, bei dem es die Balance der Interessen einzelner Gruppen innerhalb der chinesischen Gesellschaft im Auge zu behalten gilt. Löhne, Zinsen, sowie der Außenwert des Renminbi werden dabei eine größere Rolle spielen müssen. Interessanterweise rückt jedoch auch eine weitere Möglichkeit zunehmend in den Fokus der Diskussion – die Privatisierung staatlicher Vermögenswerte.
Enormens Potential für Privatisierungen
Wie viel Spielraum in dieser Richtung nach wie vor besteht, lässt sich leicht an der Struktur des chinesischen Aktienmarktes verdeutlichen. Noch immer machen staatlich kontrollierte Unternehmen rund 80% der chinesischen Aktienmarktkapitalisierung aus. Zum Vergleich: In Russland sind es 62%, in Brasilien 38%. Ein weiteres Indiz für die überbordende chinesische Staatswirtschaft findet sich in einem sozialen Phänomen der jüngeren Zeit – dem Trend unter jungen Fachkräften, zur „Rückkehr ins System“. Die Anzahl derjenigen, die sich zum jährlichen Aufnahmetest für Staatsbeamte melden, steigt jedenfalls kontinuierlich. Waren dies in 2007 noch 600.000 Bewerber, sahen in 2010 bereits 1,5 Millionen Bewerber das Beamtentum als geeigneten Weg des sozialen Aufstiegs. Umso interessanter ist es daher zu beobachten, dass sich in den vergangenen Monaten ein durchaus kritischer Diskurs zum Einfluss und zur Zukunft staatlicher Unternehmen entwickelt hat. Eine Wachsende Anzahl chinesischer Wissenschaftler kritisiert dabei die Abhängigkeit dieser Unternehmen von billigem Kapital, politischer Vorteilnahme, und der Monopolisierung ihrer jeweiligen Märkte. Die damit einhergehende Fehlallokation von Ressourcen sei das Grundübel der chinesischen Wirtschaftsstruktur und behindere ein weiterhin dynamisches Wachstum in den kommenden Jahren. Dem ist im Grunde nichts hinzuzufügen und es bleibt zu hoffen, dass die chinesische Führung – vor allem die neue Generation, die ab 2013 die Geschicke des Landes leiten wird – den Willen für weitere Reformen und die Liberalisierung strategischer Wirtschaftsbereiche aufbringen wird. Das chinesische Wachstum stünde damit insgesamt auf einem gesünderen Fundament und vermutlich würden auch die Aktienmärkte bald begreifen, dass die Fixierung auf reine Wachstumszahlen der Vergangenheit angehören sollte.