Die größte Fehlkonstruktion in der Demokratie

Geposted von Walter Feil am

Gerade sah ich in der Tagesschau vom 14.11. die Bilder von den Demonstrationen in Spanien, Portugal, Griechenland und Frankreich. In den ”Südstaaten” gingen Hunderttausende von frustrierten Menschen auf die Straße und machten ihrem Unmut über die Sparpolitik ihrer Regierungen Luft. Leider gab es auch Gewalt, Zerstörung und Verletzte.

Einige Staaten genießen kein Vertrauen mehr im Anlagemarkt

Den Menschen in diesen Ländern geht es heute schlechter als vor dem Ausbruch der Staatsschuldenkrise. Sozialleistungen wurden gekürzt,  Löhne und Gehälter reduziert. Die jeweiligen Regierungen stehen unter gewaltigem Druck, die Staatsausgaben zu senken. Sie hatten es in den vergangenen Jahren zugelassen, jedes Jahr mehr auszugeben als sie im Staatshaushalt einnahmen, deutlich mehr. Jahr für Jahr entstanden größere Defizite, bis die Schulden dieser Staaten so stark angewachsen waren, dass die traditionellen Finanzierungspartner das Vertrauen, dass die Staaten ihre Verpflichtungen künftig zuverlässig erfüllen würden, verloren. Der gewohnte Automatismus, dass fällige Staatsanleihen durch Ausgabe neuer Anleihen zurückgezahlt wurden, funktionierte nicht mehr: Die Käufer für neue Anleihen blieben aus, und wenn sie doch bereit waren, neue Anleihen zu zeichnen, dann nur gegen hohe Zinsen, wie sie für nicht mehr ganz vertrauenswürdige Schuldner üblich sind.

Die Anleihenkäufer wollen ihr Geld lieber in Deutschland anlegen

Gleichzeitig wurden Anleihen der BRD so stark nachgefragt, dass der Zinssatz (Angebot und Nachfrage regelt den Preis …) für kurzfristige Staatsanleihen auf fast 0 % sank und 10-jährige deutsche Anleihen für unter 1,5 % Zinsertrag gezeichnet wurden. Dieser Zinssatz liegt unter der Inflationsrate und führt damit zu einem realen Vermögensverlust bei den Anleihekäufern. Offenbar haben die Anleger in die Schuldentragfähigkeit Deutschlands deutlich mehr Vertrauen als bei den “Südstaaten”. Warum ist das so?

Die Ursachen liegen (auch) in unserem demokratischen System

In einer Demokratie bestimmt das Volk, welche Personen Regierungsmacht erhalten und den Staat während der jeweils nächsten Regierungsperiode führen sollen. Die Bewerber stellen ihre Ziele während des Wahlkampfes vor und kämpfen darum, möglichst viele Stimmen zu erhalten. Dieser “Kampf” artikuliert sich häufig darin, ein “Regierungsprogramm” zu veröffentlichen, das einer möglichst großen Anzahl von Wählern gefällt. Irgendwie erinnert mich das an “Brot und Spiele” der Antike, mit denen die seinerzeitigen Machthaber das Volk zufrieden stellen wollten, um unbehelligt ihre eigenen Ziele verfolgen zu können.

Nun wissen wir alle aus zahlreichen Nach-Wahl-Perioden, dass nicht alles, was im Wahlkampf versprochen wurde, eingehalten wird. Jedoch besteht schon eine starke Neigung der jeweiligen Machthaber, es “dem Volke recht zu tun”. Regierungen aller politischen Färbungen haben stets versucht, jeweils für ihre besonders gewogene Wählergruppe, aber auch immer mit einem Blick auf die insgesamt erreichbaren Stimmen, Wohltaten zu verteilen.

Helmut Schmidt, der Altbundeskanzler mit der Erfahrung aus 93 Lebensjahren, sagte in einem Interview, das am 2. November im Handelsblatt veröffentlicht wurde: “Die größte Fehlkonstruktion in der Demokratie besteht darin, dass das wichtigste Ziel der meisten Politiker ist, wiedergewählt zu werden.”

Die politische Führung in den heute überschuldeteten Staaten hat es an Weitsicht und an staatsmännischer Verantwortung fehlen lassen. Die hohe Staatsverschuldung, die heute zu den qualvollen Sparmaßnahmen zwingt, entstand nicht über Nacht. Sie entstand in einem fortlaufenden Prozess, der über viele Jahre andauerte. Jede Regierung hat es zugelassen, dass die Verschuldung weiter stieg. Keine Regierung hat konsequente Maßnahmen umgesetzt, den Staatshaushalt in Ordnung zu halten bzw. wieder in Ordnung zu bringen. Wie gesagt: “… das wichtigste Ziel der meisten Politiker ist es, wiedergewählt zu werden.”

Ein solider Staatshaushalt resultiert (auch) aus einer soliden Leistung

Deutschland mit seiner starken Wirtschaftskraft wird heute als die Lokomotive und der Rettungsanker für ganz Europa angesehen. Worauf beruht diese Wirtschaftskraft, die dieses Jahr (im schlimmsten Jahr der Schuldenkrise der ”Südstaaten”) in Deutschland zu den historisch höchsten Steuereinnahmen aller Zeiten führte? Sie beruht zu einem großen Teil auf der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, die zu einem seit Jahren wachsenden Exportüberschuss führte. Das war jedoch nicht immer so.

2003 verkündete Gerhard Schröder die größte Reform in der Neuzeit der BRD

Zehn Jahre zurück wurde Deutschland noch als “der kranke Mann Europas” bezeichnet. Am 6.1.2003 schrieb “Die Welt”:  “Deutschland ist inzwischen der kranke Mann Europas – das haben bereits viele erkannt, und dies wird auf Dauer so bleiben. Die Unfähigkeit zur Reform hat das letzte Jahrzehnt geprägt und wird die Zukunft weiter prägen.”

Zweieinhalt Monate danach veröffentlichte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung die zwischenzeitlich vielzitierte “Agenda 2010?. In Wikipedia lesen wir über diesen historischen Wendepunkt der deutschen Wirtschaftsentwicklung:

Die Agenda 2010 (sprich „Agenda zwanzig-zehn“) ist ein Konzept zur Reform des deutschen Sozialsystems und Arbeitsmarktes, das von 2003 bis 2005 von der aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen gebildeten Bundesregierung weitgehend umgesetzt wurde. Als Grundlage der Reform diente der „Wirtschaftspolitische Forderungskatalog für die ersten hundert Tage der Regierung“ der Bertelsmann-Stiftung – seinerzeit u.?a. im Wirtschaftsmagazin Capital publiziert –, dessen Inhalte zu weiten Teilen übernommen wurden. 

Die Bezeichnung „Agenda 2010“ verweist auf Europa. So hatten die europäischen Staats- und Regierungschefs im Jahr 2000 auf einem Sondergipfel in Portugal beschlossen, die EU bis zum Jahr 2010 nach der sog. „Lissabon-Strategie“ zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen. Die Inhalte der Agenda 2010 decken sich jedoch nur begrenzt mit denen der Lissabon-Agenda, die auf die Förderung von Innovation, der Wissensgesellschaft und der sozialen Kohäsion abzielte.  

Die Agenda 2010 wurde in der Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder am 14. März 2003 verkündet. Vorarbeiten waren bereits im Schröder-Blair-Papier von 1999 geleistet worden. Als Ziele nannte Schröder unter anderem die Verbesserung der „Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und für mehr Beschäftigung“ sowie den „Umbau des Sozialstaates und seine Erneuerung“. Die mit den Worten „Wir werden Leistungen des Staates kürzen“ angekündigten Maßnahmen führten zu heftigen Kontroversen, insbesondere auch in der SPD selbst.

Fünf Jahre später hatte Deutschland seine Schwäche überwunden

Im Rahmen dieser Agenda 2010 übten die Gewerkschaften Zurückhaltung mit ihren Lohnforderungen. Arbeitskämpfe blieben weitgehend aus, die Produktion konnte ungestört vorangetrieben werden. Unternehmen und Arbeitnehmer suchten und fanden flexible Modelle der Arbeitszeitgestaltung. In Zeiten großer Nachfrage wurden Millionen von Überstunden auf “Lebensarbeitszeitkonten” gutgeschrieben, und in Zeiten geringer Nachfrage konnte die Auslastung der Betriebe zurückgefahren werden, ohne dass die Mitarbeiter Lohneinbußen hinnehmen mussten. Die Reserven waren auch groß genug (und die Politik besonnen und weitsichtig genug), dass die Finanzkrise 2008, die sich weltweit zu einer handfesten Wirtschaftskrise ausweitete, mit Kurzarbeit und weitgehend ohne Entlassungen überstanden werden konnte. Die Unternehmen behielten ihre bewährten und erfahrenen Fachkräfte und konnten nach der Krise mit einem Blitzstart zum nächsten Höhenflug ansetzen, schneller und erfolgreicher als jeder andere Staat in Europa.

Das “Volk” mag jedoch keine Politik, deren Früchte erst in der Zukufnt geerntet werden.

Gerhard Schröder wurde abgewählt

Bundeskanzler Gerhard Schröder, der diese “Agenda 2010? auf den Weg gebracht hatte, die mit ihrer Weitsicht und Konsequenz wesentlich dazu beitrug, Deutschland vom ”kranken Mann” zum Rettungsanker Europas zu entwickeln,  wurde im Jahr 2005 vor dem planmäßigen Ablauf seiner Amtszeit im Rahmen eines Mißtrauensantrages abgewählt. Seine Regierung wurde durch eine andere Regierung ersetzt.

Schröder hat dem Volk eine Medizin verordnet, die ihm nicht schmeckte. Das Volk entschied über seine Vertreter im Parlament, dass sich das ändern muss. Es mag durchaus sein, dass die Volksvertreter und Regierungen in anderen Staaten diese Entwicklung sehr genau beobachtet und ihre Schlüsse daraus gezogen haben. Wie sagte Helmut Schmidt mit den Erkenntnissen und der Weisheit aus 93 Lebensjahren? “Die größte Fehlkonstruktion in der Demokratie besteht darin, dass das wichtigste Ziel der meisten Politiker ist, wiedergewählt zu werden.”

Auch demokratische Staatsformen brauchen eine starke Regierung – und ein verständiges Volk

Die Menschen in zahlreichen Staaten mit demokratischen gewählten Regierungen leiden heute darunter, dass frühere Regierungen keine Weitsicht, keine Stärke und keinen Mut zur Durchsetzung von Maßnahmen hatten, die das Volk zu nachhaltig gutem Einkommen und Wohlstand geführt hätte. Es ist ja auch viel einfacher (und einer Wiederwahl förderlich), möglichst viele Wohltaten zu verteilen, die die Lebensumstände kurzfristig (häufig leider nur scheinbar) verbessern. Die Aufblähung des Staatswesens aus Gründen, die auf den zweiten Blick nicht immer den Vorteil für das regierte Volk erkennen lassen, zählt auch dazu.

Die wohlstands-zerstörenden Folgen von Entscheidungen, die nur zu einem kurzfristigen Vorteil für das (Wahl-) Volk führen, sind unter anderem:

  • Für die jetzt lebende Generation: Die Handlungsfähigkeit des Staatswesens wird immer mehr eingeschränkt. Statt seine Reserven zur Lösung aktueller Probleme einsetzen zu können, braucht der Staat seine Finanzen zur Bedienung der Zinsen seiner überbordenden Schulden und Monat für Monat für die Löhne und Gehälter eines aufgeblähten Staatsaprarates. Griechenland leidet aktuell am meisten darunter.
  • Für die künftigen Generationen: Die Handlungsfähigkeit in der Zukunft wird heute schon extrem beschnitten. Die Staatsschulden, die heute aufgenommen werden, sind eine schwere Bürde für die folgende Generation.
  • Für die Menschen, die jetzt von ihren Ersparnissen leben: Die Vorsorgevermögen der heute lebenden Bürger verlieren an Ertragskraft. Ein Vorsorgevermögen (Sparguthaben, Konto, Versicherung, …) liefert heute nur noch einen Bruchteil des Ertrages, der früher davon erwartet wurde. Dieses Problem betrifft nicht nur die privaten Vermögensreserven, sondern auch die Kapitalanlagen sämtlicher Pensionskassen, Unterstützungskassen, Versorgungszusagen von Unternehmen, … und alle Lebens- und Rentenversicherungen, deren Deckungsstock  hauptsächlich in Geldvermögen investiert ist. (siehe auch der Beitrag: Wie sicher ist Ihre Lebensversicherung?) 
  • Inflation bei gleichzeitig geringer Ertragskraft führt zu einem realen Vermögensverlust und damit zu einer weiteren Entwertung von Vorsorgevermögen.

Eine starke Regierung mit Weitblick handelt wie ein guter Familienvater, der seinen Mikro-Staat mit Umsicht, bei Bedarf aber auch mit starker Hand, in eine gesicherte Zukunft führt. Er wird die Wünsche seiner Kinder weitgehend erfüllen, dies aber nur, soweit damit nicht deren Zukunft gefährdet wird. Dazu gehört allerdings nicht nur eine starker Familienvater, sondern auch verständige Kinder, die ihrem Vater folgen – auch wenn einmal für den Augenblick nicht alle Wünsche erfüllt werden. Der Unterschied ist allerdings, dass sich die Kinder in einer Familie keinen anderen Vater aussuchen können, das Volk in einer Demokratie aber eine andere Regierung.

 

Walter Feil ist Leiter der Niederlassung Bühl der Gies & Heimburger GmbH und Leiter des Investment-Research.