“Die chinesische Konjunktur kommt nicht vom Fleck. Die Anlageinvestitionen wuchsen so langsam wie seit der Jahrtausendwende nicht mehr” stellt eine führende deutsche Wirtschaftszeitung in ihrer Online-Ausgabe vom 11.6. fest. Die Meldung wird unterstrichen durch ein Zitat von Li Huiyong, Ökonom von der Investmentbank Shenyin & Wanguo in Shanghai, der betont: “Die konjunkturelle Lage bleibt düster”.
Aktienindex in China legt 60 Prozent zu
Der
CSI300 (China Securities Index 300), der die 300 größten festlandchinesischen Aktien abbildet, legte von Januar bis Mitte Juni dieses Jahres aus Sicht eines Euro-Anlegers um sechzig Prozent zu. (siehe rote Linie in der Grafik) Der DAX (blaue Linie) schaffte in der gleichen Zeit nur sechzehn Prozent. Gemäß der eben zitierten Meldung würde man den Aktienindex in China eher als den Verlierer erwarten.

Ein kleiner Satz in der oben zitierten Meldung bringt als erste Erklärung konkrete Fakten: “Sie (die Anlageinvestitionen) kletterten von Januar bis Mai nur noch um 11,4 % im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.” Wie bitte? Die Konjunktur “kommt nicht vom Fleck”, weil die Anlageinvestitionen “nur noch um 11,4 % wuchsen”?
Die Meldung geht auf einen
Bericht auf Reuters zurück. Sie wurde in zahlreichen weiteren Medien nahezu gleichlautend verbreitet. Der Reuters-Bericht enthält auch den Hinweis, dass die Prognose für das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes im zweiten Quartal 2015 von 7,0 auf 6,8 Prozent zurückgenommen wurde.
6,8 Prozent Wachstum in China – 1,5 Prozent in Europa
In der Eurozone wären wir glücklich, wenn wir in 2015 eine “zwei” vor dem Komma der Wachstumsprognose hätten.
Capital Economics erwartet für die Eurozone in 2015 eineinhalb und für 2016 ein Prozent Wachstum. Dagegen erscheinen die 6,8 Prozent Wachstum in China wie ein Traum.
China drosselt sein Wachstumstempo genau nach Plan
China steht mit seinen 1,37 Milliarden Einwohnern für 16,5 Prozent des weltweiten Bruttosozialproduktes. Nach den Jahren des ungebremsten Wachstums als Werkbank der Welt mit GDP-Steigerungen zwischen fünfzehn und zwanzig Prozent ist die Volkswirtschaft nun in einer Reifephase angelangt, in der solche Wachstumsraten nicht mehr möglich sind.
Die Reduzierung der Wachstumsgeschwindigkeit sollte uns jedoch nicht über das tatsächliche Ausmaß des weiteren Wirtschaftswachstums täuschen. Die übliche Statistik über Wachstumsraten nennt stets die Steigerung in Prozent gegenüber dem Vorjahr. Befindet sich ein Land in einer frühen Entwicklungsphase und steigert sein GDP von 100 auf 120, sprechen wir von “20 % Wachstum”. Zehn Jahre später kann das GDP dann – als Beispiel – auf 300 stehen. Ein Wachstum von nur noch 10 % (von 300 auf 330) bedeutet eine absolute Steigerung der Wirtschaftsleistung, die eineinhalb mal so groß ist wie zehn Jahre früher ein Wachstum von 100 auf 120.
China fährt – ausgehend von dem jetzigen Stand seiner Volkswirtschaft – die prozentuale Wachstumsquote von Jahr zu Jahr etwas zurück. Für 2015 strebt die Regierung 7,0 Prozent an, für 2016 wird es etwas weniger (vielleicht 6,5 Prozent) sein, für die folgenden Jahre wieder etwas weniger in Richtung 6,0 – 5,75 – 5,5 Prozent.
Zahlreiche Probleme zu lösen
Das weit überdurchschnittliche Wachstum der letzten zwanzig Jahre hat zu Fehlentwicklungen geführt, die jetzt korrigiert werden müssen. Beispiele hierfür sind:
- Die hohen Investitionen, mit denen die Wirtschaft nach der Finanzkrise 2008 stabilisiert wurde, führten zu hoher Kreditaufnahme, vor allem bei den Lokalregierungen. Diese Kredite müssen planmäßig zurückgeführt werden.
- Die starke Expansion der Staatsbetriebe, die häufig nicht nur nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten, sondern auch mit Blick auf eine Stabilisierung des Arbeitsmarktes erfolgte, führte zu Überkapazitäten. Diese müssen wieder abgebaut werden.
- Der Mangel an Anlagealternativen bei gleichzeitig zunehmendem Wohlstand einer schnell wachsenden Mittelschicht führte zu übertriebenen Preissteigerungen bei Immobilien und in der Folge zu einem überzogenen Vorratsbau der Immobilienentwickler. Die Preissteigerungen werden gebremst. Der Überhang an unverkauften Immobilien muss langsam wieder abgebaut werden.
Die Politik in China geht die Aufgaben entschlossen an
Die Probleme in der chinesischen Volkswirtschaft werden in unseren Medien häufig beschrieben. Seltener lesen wir darüber, mit welcher Entschlossenheit die chinesische Führung diese Probleme adressiert und mit welcher Konsequenz die Maßnahmen zur Lösung in Gang gesetzt werden. Der in London ansässige Wirtschaftsdienst Capital Economics betonte in den letzten Monaten immer wieder: China hat sowohl den politischen Willen als auch die finanziellen Ressourcen, die als notwendig erachteten Maßnahmen umzusetzen. “China has plenty of tools”, Korrekturen durchzuführen – und tut dies auch. In diesem Zusammenhang wird der strukturelle Unterschied zu Indien deutlich:
- Indien hat mit Narendra Modi als neuen Premier einen Hoffnungsträger an der Spitze, der die wesentlichen strukturellen Hemmnisse des Landes aus dem Weg räumen will und in seiner früheren Amtszeit als Chef einer Provinz auch bewiesen hat, dass er dies kann. Die Umsetzung der definierten Reformen, die dem Land zu einem Turbo-Start für eine wirtschaftliche Aufholjagt verhelfen könnten, bleibt aber im Gestrüpp der Interessen zahlreicher Widersacher hängen. In dem demokratisch organisierten Land gibt es zu viele Entscheidungsträger, die über die Macht und die Möglichkeit verfügen, ihre eigenen Pfründe und Vorteile zu verfolgen statt die grundlegenden Reformen zu unterstützen.
- China hat mit seinem Politbüro ein Entscheidungsgremium, das über alle Macht und Möglichkeit verfügt, die getroffenen Entscheidungen schnell und konsequent umzusetzen. Li Keqiang als neuer Regierungschef hat viele überrascht, mit welcher Durchsetzungskraft er als erstes die weit verbreitete Korruption bekämpfte. Dieses Problem wird wohl niemals vollständig behoben werden können. Aber heute traut sich keiner der Verantwortlichen in der Etappe mehr, Vorgaben der Zentralregierung zu missachten. Damit ist der Weg frei, die Entscheidungen des Politbüros mit Tempo im ganzen Land umzusetzen.
Nachfolgend greife ich einige Beispiele auf, wie die chinesische Regierung die wesentlichsten Probleme aufgreift und Maßnahmen zur Lösung in Gang setzt. Alle Beispiele sind aus Caixin, einer der führenden Wirtschaftszeitungen des Landes, entnommen.
Caixin vom 21.05.2015: China unleashes Bonds to tackle local debt
China stellt eine Billion Yuan Kredite zu günstigen Konditionen bereit, um damit teure (“Social-Lending”) Kredite der Verwaltungsbezirke abzulösen. Diese Kredite stammen zu einem großen Teil aus der Zeit, als China nach der Finanzkrise 2008 große Infrastrukturprojekte anschob, die seinerzeit dazu beigetragen haben, die Wirtschaft zu stabilisieren und die Beschäftigungsquote hoch zu halten.
=> Der inländische Aktienmarkt reagiert mit der vierten hohen Kurssteigerung in Folge. Die Anleger erwarten weitere Konjunkturstimuli, vor allem die Umsetzung der bereits angekündigten neuen Infrastrukturinvestitionen.
Caixin vom 08.05.2015: With New Fund China aims to raise the manufacturing bar.
China startet den Aufbau eines Fonds mit einem Volumen von einer Milliarde USD mit dem Ziel, die “Industrie 4.0? zu fördern. Mit den Mitteln des Fonds der Aufbau der „Industrie 4.0“ in China beschleunigt werden, vor allem durch Kooperation und vermutlich auch durch den Kauf von kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland, die auf diesem Gebiet führend sind. Das Projekt wird von Henry Cai, 61, geboren in Shanghai (und damit mit der chinesischen Kultur vertraut) geführt. Cai war ein „Senior Executive der Deutschen Bank“ und ist damit auch mit der deutschen Kultur und den deutschen Gepflogenheiten bei Geschäften vertraut. Caixin beschreibt die Ziele und die Denkweise der Chinesen und wie sie den Vorsprung der „Ingenieurs-Nation Deutschland“ in den nächsten zehn Jahren aufholen wollen.
Caixin vom 09.06.2015: Stock Investors have a harde time getting Money for leveraged buys
Caixin beschreibt die Risiken, die sich durch das Anwachsen der Aktieninvestments auf Kredit aufbauen und die Maßnahmen der Regierung, diese Übertreibungen zu begrenzen. Offensichtlich hat die Regierung diese Übertreibungen erkannt – und trifft recht schnell Gegenmaßnahmen.
Dies zeigt sich auch in der Entwicklung der Margin-Trades in den letzten Monaten: seit 2013 hat der Handel mit Aktien mit Inanspruchnahme von Kredit kontinuierlich zugenommen. Die letzten zwei Monate kam diese Zunahme plötzlich zu einem Stillstand und verharrte bei 16 Prozent. Dies ist auf die einengenden Vorschriften der Regierung bei den Brokern und Banken zurückzuführen, mit denen die wilde Spekulation eingedämmt werden soll. – Die Kurse der Inlandsaktien in China reagierten nur einen Tag lang mit einem Rückgang. Zwei Tage später war der vorherige Stand bereits wieder überschritten.
Caixin vom 10.06.2015: Let the sun shine on Private Enterprise
Wie in Deutschland ist auch in China das private Unternehmertum der größte Arbeitsplatzmotor. Caixin als die führende (von der Politik kontrollierte) Wirtschaftszeitung kann durchaus als das Sprachrohr der politischen Führung betrachtet werden. Heute betont die Zeitung die Wichtigkeit der privaten Unternehmen und die klare Absicht der Regierung, die Ausbreitung der Privatunternehmen zu unterstützen.
Ergänzend berichtet Capital Economics am 10.09.2015 über eine
Verdoppelung der “Local government dept swaps”
Die Finanzmittel zur Ablösung der Darlehen in den Verwaltungsbezirken (“Local governments”) werden verdoppelt. Die Regierung stellt damit genug Finanzmittel zur Verfügung, um sämtliche (teuren) Darlehen der Lokalregierungen, die sie in den Zeiten starker Investitionstätigkeit (zu höheren Zinsen) aufgenommen haben, abzulösen. Diese Maßnahme stabilisiert die Finanzlage der Lokalregierungen erheblich.
In Deutschland sehen wir mehr die Probleme als die Chancen
In Deutschland beschäftigen wir uns gerne mit Problemen. Demensprechend finden auch Hinweise auf Übertreibungen und Fehlentwicklungen schneller den Weg auf die Titelseiten unserer Medien als Berichte über positive Entwicklungen. So illustrierte das
Handelsblatt vom 26.05.2015 (Druckausgabe) die Gefahr mit einem zum Platzen aufgeblasenen Ballon auf der Titelseite mit der Überschrift
“Risiko in Rot – Aktienfieber im Reich der Mitte”.
Der Beitrag weist (zu Recht!) darauf hin, dass Chinas Inlandsbörsen so stark gestiegen sind, dass selbst die Regierung in Peking vor den Risiken warnt. Allerdings ist zu unterscheiden:
- Die Börse in Shenzhen (plus 280 % seit 1.1.2015) listet vor allem die kleineren Unternehmen, von denen viele ähnlich wie in der Dot-Com-Blase von 1999 mit utopischen Bewertungen gehandelt werden.
- Die Börse in Shanghai (+ 146 % seit 1.1.2015) listet mehr die großen Unternehmen.
- Der CSI300 (+ 50 % seit 1.1.2015) repräsentiert die 300 größten Unternehmen (gemessen am Freefloat), die an der Börse Shanghai gelistet sind. Davon sind 38 Prozent Banken und Versicherungen, knapp 20 % Industrie und 20 Prozent Konsumgüter und Basismaterialien.
Kommentar:
Der 3ik-Strategiefonds III (Ziel: langfristig hoher Wertzuwachs) ist mit etwa fünf Prozent seines Vermögens in einem ETF, der den CSI300 abbildet, investiert. Dieses Investment hat bisher einen guten Beitrag zur Wertentwicklung des 3ik-Strategiefonds geleistet. Nach den außerordentlich positivem Wertzuwachs in 2015 (siehe Grafik zu Beginn dieses Beitrags) sehen wir durchaus die Gefahr, dass es mit diesem Investment zu einem Rückschlag kommen kann. Deswegen beobachten wir die Entwicklung täglich, wollen das Investment jedoch nicht “rein vorsorglich” beenden. Die gute Entwicklung kann sich noch eine Weile fortsetzen. Der ETF ist den ganzen Tag über handelbar und kann damit innerhalb weniger Minuten nach einer Verkaufsentscheidung herausgenommen werden. Wir erwarten allerdings, dass sich die positive Entwicklung im inländischen Aktienmarkt in China – Teilbereich CSI300 – noch eine Weile fortsetzt.
Anhang: Einige Daten zu den Entwicklungen in China
Handelsbilanz
Jeden Monat erwirtschaftet China erneute einen Überschuss der Ausfuhren über die Importe – mit Ausnahme des Monats, in dem jährlich wiederkehrend das Neujahrsfest gefeiert wird.
Immobilienmarkt
Seit im Jahr 2008 der Neubau von Immobilien beschleunigt wurde (unter anderem auch, um die Folgen der weltweiten Finanzkrise auf den chinesischen Arbeitsmarkt zu mildern), erhöhen sich die Bestände an unverkauften Immobilien. (linke Grafik).
Die vielzitierten Preiserhöhungen für Eigentumswohnungen relativieren sich sehr schnell, wenn man daneben auch das Lohnwachstum in Betracht zieht. Tatsächlich stiegen die Löhne schneller als die Immobilienpreise. Seit 2000 fiel der Faktor an Arbeitszeit, den der chinesische Käufer aufbringen muss, um den Kaufpreis einer Immobilie zu verdienen, auf nur noch 60 Prozent des Ausgangswertes. (rechte Grafik)


Die jüngsten Maßnahmen der Regierung zielten darauf ab, die Kreditaufnahme für den Immobilienkauf günstiger zu gestalten. Tatsächlich liegt der Zinssatz für die Kaufpreisfinanzierung heute deutlich niedriger als noch vor einem Jahr. (linke Grafik)
Die Immobilienverkäufe sind die letzten Monate auch wieder etwas angestiegen. Die graue Linie in der rechten Grafik zeige den Anstieg seit dem Tief zum Neujahrsfest (Linie endet im Mai)
Verbrauchervertrauen
Das “Verbrauchervertrauen” gibt an, wie zufrieden die Bürger mit der gegenwärtigen Situation sind und welche Erwartungen sie bezüglich der Entwicklung in den kommenden Monaten hegen. Steigendes Verbrauchervertrauen zeigt an, dass die Bürger die wirtschaftliche Zukunft positiv sehen. Dies beeinflusst auch ihre Bereitschaft, den Konsum zu erhöhen, Immobilien zu kaufen und Geschäfte zu eröffnen. In China steigt das Verbrauchervertrauen seit 2012 tendenziell (unter Schwankungen) stark an. Gegenwärtig ist diese Messzahl der Zufriedenheit wieder deutlich über dem letzten Tief Mitte 2013.
Aktienkurse im Vergleich
Die Kurse an der Inlandsbörse in Shanghai (hier dargestellt am Shanghai Composite, der sämtliche in Shanghai gelisteten Aktien umfasst und nicht nur die 300 größten Titel des CSI300) sind seit Anfang 2015 deutlich stärker gestiegen als der Hang Seng Index. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass die Aussichten auf Preissteigerungen im Immobilienmarkt in China nicht mehr so positiv sind wie noch vor einiger Zeit erwartet. Viele Chinesen kauften sich Eigentumswohnungen als Kapitalanlage, ließen diese (in der Regel in einem etwas erweiterten Rohbauzustand) leer stehen und verkauften sie nach einigen Jahren wieder, in der Regel mit gutem Gewinn. Heute steht bei die Investition in den Aktienmarkt mehr im Fokus, womit viel Anlagekapital in den Aktienmarkt gelenkt wird.