Editorial der Freitags-Info vom 25.11.2022

Geposted von Thomas Boldt am

Jahresendrallye und dann?

Ganz plötzlich ist sie da, die Jahresendrally. Aber so ist Börse. Was niemand auf dem Zettel hat, kommt. Fundamental wurde die angenehme Kursbewegung vor allem durch die relativ günstigen US-Inflationsdaten der vergangenen Monate ausgelöst.

Jetzt spielt der Markt also noch nicht unbedingt die Zinspause durch. Allerdings sind wir alle guter Dinge, dass die US-Währungshüter die schreckliche Zinspresse etwas lockern können.

Die nächste Fed-Sitzung findet bereits im Dezember statt. Möglicherweise werden wir dann in der wichtigen Zinsfrage weitere wichtige Informationen erhalten. Und vielleicht sind die Informationen der Natur, dass die Aktienmärkte im Dezember nochmals einige Prozente auflegen können.

Keine Frage, das Markt-Momentum ist stark und die kurzfristige Perspektive stimmt. Jetzt gilt es, noch rasch einige Mittel in den Markt zu bringen, damit Sie die attraktive Kursbewegung auch wirklich spüren.

Die langfristige Perspektive freilich ist uns momentan noch nicht so richtig klar. Viele Investoren rechnen nämlich mit einer aufziehenden Rezession, deren Intensität sich noch nicht abschätzen lässt. Folglich haben Investoren im laufenden Jahr Aktien quasi vorsorglich und im Vorgriff auf die Rezession 2023 verkauft.

Nun sind allerdings mit wenigen Ausnahmen die Gewinne der Unternehmen im laufenden Jahr gar nicht oder kaum gefallen. Ich kann Ihnen sogar spontan eine lange Liste von Unternehmen aufzählen, die 2022 neue Rekordgewinne schreiben werden. Ich fasse zusammen: Einerseits sind die Unternehmensgewinne stabil, andererseits die Kurse ganz mehrheitlich gefallen.

Folglich ist etwa der DAX gemessen an seinem Index-KGV von 13 bis 14 derzeit wirklich billig. Unerfahrene Börsianer rufen also nun „Kaufen“. Nun drückt das niedrige Index-KGV und die generell günstigen Bewertungen einen gewissen Pessimismus aus. Wird sich dieser Pessimismus im Markt etwa durch scharfe Gewinnrückgänge noch realisieren? Oder liegen die Bären und Skeptiker falsch?

Wir haben also fallende Kurse gesehen ohne eine entsprechende realwirtschaftliche Fundierung. Ich wiederhole mich: Die Kurse sind gefallen, realwirtschaftlich allerdings hat sich wenig verändert. Den meisten Unternehmen geht es immer noch gut, die Arbeitslosigkeit steigt nicht, und der private Konsum bleibt stabil.

Ich stelle mir schon seit Wochen die Frage: Kann die nächste Hausse kommen, ohne dass zuvor die Unternehmensgewinne tatsächlich einmal gefallen sind? In der Vergangenheit hat der DAX eben die Hausse nicht unbedingt in einer Phase des niedrigen KGVs gestartet. 2009 etwa war der DAX und auch die US-Indizes fundamental betrachtet unheimlich teuer. Warum war das so? Ja, weil die Unternehmensgewinne kollabiert waren. Der realwirtschaftliche Gewinnrückgang hatte dafür gesorgt, dass die KGV-Faktoren explodiert sind. Der fachchinesische Begriff für dieses Phänomen ist übrigens „multiple contraction“, zu Deutsch: Das Zusammenziehen der Multiple oder Faktoren.

2009 sind also die Gewinne weit stärker als die Kurse gefallen. 2022 sehen wir bislang die umgekehrte Konstellation: Die Kurse sind schneller als die Gewinne gefallen. Und das ist die Gretchen-Frage: Muss der Markt das, was die Börse 2022 vorbereitet hat, 2023 noch realwirtschaftlich nachvollziehen? Ich habe auf diese ganz wichtige Frage bislang noch keine abschließende Antwort gefunden. Sicher ist, dass wir uns in einer Phase des Umbruchs und der Unsicherheit befinden.

Bleiben Sie neugierig und genießen Sie das Wochenende.

Beste Grüße von Thomas Boldt und dem gesamten Team von Gies & Heimburger

 

 

Direktor Privatkunden Gies und Heimburger GmbH