Schicksalswahl in Frankreich
Am kommenden Sonntag treffen die rund 48,7 Millionen Stimmberechtigten eine Schicksalswahl für ihre Grande Nation, aber nicht nur für Frankreich. Auch für Deutschland und Europa sowie das internationale Machtgefüge angesichts des Ukraine-Kriegs steht Entscheidendes auf dem Spiel.
Le Pen will EU gründlich ändern
Während Macron sich in der mehr als zweieinhalbstündigen TV-Debatte zur deutsch-französischen Kooperation und zur Verankerung Frankreichs in der Europäischen Union bekannte, stellte Le Pen klar, dass sie die EU gründlich ändern will. Der 53-Jährigen geht es um mehr nationale Kompetenzen und ein Europa, in dem nationales Recht vor EU-Recht steht und Brüssel den Mitgliedsstaaten wenig vorgeben kann. Gleichzeitig wehrte sie sich gegen den Vorwurf Macrons, insgeheim noch immer aus der EU austreten zu wollen. Zu Deutschland sagte Le Pen vor den TV-Kameras kaum etwas. Statt der deutsch-französischen Achse haben für sie Partner wie Großbritannien oder Ungarn Vorrang, ließ sie in der Vergangenheit durchblicken. Auch für die aktuell geschlossene westliche Front gegen Russland angesichts des Kriegs in der Ukraine dürfte Le Pen zum erheblichen Problem werden. Mehrfach machte die als Freundin des Kremlchefs Wladimir Putin geltende Politikerin in den vergangenen Tagen Russland Avancen für die Zeit nach dem Krieg. Das Land könne wieder zum Partner Europas werden. Einem Embargo von Gas aus Russland erteilte sie bereits eine Absage. Sanktionen dürften Frankreich nicht schaden, meinte sie. Macron indes ließ am geeinten Auftreten der Europäer mit den USA gegenüber Russland keinerlei Zweifel – zudem hält der 44-Jährige dank seiner Telefondiplomatie mit Putin einen Verhandlungskanal offen.
Rente, Wirtschaft und Kaufkraft für Franzosen zentral
In Frankreich aber liegen den Menschen eher andere Themen auf dem Herzen – etwa Rente, Wirtschaftswachstum und allen voran die Kaufkraft, die sich mit den spürbaren Folgen des Kriegs in der Ukraine immer weiter ins Zentrum der Debatten befördert hat. Während Le Pen sich seit Wochen als Fürsprecherin derer inszenierte, die unter den steigenden Strom-, Sprit- und Lebensmittelpreisen leiden, verfehlte sie es im Duell, die Sinnhaftigkeit ihrer Vorschläge stichhaltig zu belegen, und konnte Macrons Kritik nicht kontern.
Doch um jetzt noch Wählerinnen und Wähler für sich zu gewinnen, müssen Macron und Le Pen auch persönlich überzeugen. Für Macron bedeutet dies, das Bild von ihm als arroganten Elitepolitiker nicht zu verfestigen. So gab sich der gewiefte Redner gerade zu Beginn der TV-Debatte betont zurückhaltend, gestand Fehler ein, blickte kritisch und versuchte so, bloß kein Gefühl der Überlegenheit durchschimmern zu lassen.
Le Pen wirkt kleinlaut und verloren
Le Pen hingegen, die sich beim TV-Duell 2017 heftig blamiert hatte, wollte zeigen, dass sie Präsidentin kann, eigene Themen hat und nicht nur angreift. Der Verzicht auf Kommando Attacke ließ sie aber eher kleinlaut und verloren wirken. Ihr großer Trumpf: in den vergangenen Monaten suchte sie unermüdlich den Kontakt zu den Franzosen, gab sich menschlicher und volksnäher als ihr Kontrahent. Sie versprach gar, Frankreich wie eine Mutter führen zu wollen.
Die auffallend zarten Töne der früher als rechter Haudegen bekannten Politikerin gehen mit ihrem Wunsch einher, endlich einen Imagewandel zu vollziehen, sich und ihre Partei Rassemblement National zu „entteufeln“ und so in weiteren Schichten wählbar zu werden. Eine Charmeoffensive, die in Teilen gelungen ist – so wollen doch ein Viertel der Anhänger der ausgeschiedenen konservativen Kandidatin Valérie Pécresse nun Le Pen ihre Stimme geben. Unter den Wählern des Linken Jean-Luc Mélenchon sind es beachtliche 17%. Die Rechte Le Pen ist trotz der geschlossenen Aufrufe etlicher Parteien gegen sie für viele in Frankreich längst kein rotes Tuch mehr.
Macron hingegen hat in seinen fünf Jahren Amtszeit auch Frust und Enttäuschung auf sich gezogen. Das dürfte einen so klaren Sieg gegen Le Pen in der Stichwahl wie noch vor fünf Jahren nun verbauen.
Fazit: Wenige Tage vor der Wahl sind in Frankreich noch immer viele Menschen unentschlossen, wen sie wählen. Gerade die große linke Wählerschaft des Drittplatzierten Mélenchon könnte zum Königsmacher werden – und das, obwohl sie mit am eindeutigsten weder Macron noch Le Pen an der Staatsspitze sehen wollen. Sollten die Bewerber es nicht schaffen, die Unentschlossenen im Endspurt für sich zu gewinnen, könnten am Sonntag letztlich auch die leer abgegebenen Stimmzettel entscheidend für den Ausgang der Wahl sein.
Thomas Boldt und das gesamte Team von Gies & Heimburger wünschen Ihnen ein schönes Wochenende.