Zinswende im Euroland?
„Die Geldpolitik kann es sich nicht leisten, über Energiepreissteigerungen hinwegzusehen, wenn diese ein Risiko für die mittelfristige Preisstabilität darstellen“.
Wer hat diesen Satz in dieser Woche gesprochen? Sie kommen nicht drauf. Es war nicht Jerome Powell aus Washington, der heuer eine Zinswende in den USA einleiten wird. Nein, es war ausgerechnet das deutsche EZB-Mitglied Isabel Schnabel, die sich bisher vor allem als hartnäckige „Inflationsleugnerin“ hervorgetan hatte. Als die Inflation im letzten Jahr antrabte, tat sie die Preissteigerungen als kurzfristig ab.
Nun denkt Frau Schnabel um und hat folglich ihre Rhetorik angepasst. Und in den nächsten Wochen wird sie verbal nachlegen, um auf diese Weise den Markt auf eine Erhöhung des Euro-Leitzinses vorzubereiten.
Das höchste Organ der EZB, also das Direktorium spricht (noch) allerdings nicht mit einer Zunge. So ist der Italiener Fabio Panetta wenig begeistert von den Einlassungen seiner deutschen Kollegin. Aus guten Gründen: Rom will aufgrund der notorisch angespannten Haushaltslage keine Zinswende.
Die Konstellation in der EZB ist etwas komplexer als in vielen Medien dargestellt. So existiert die viel zitierte Allianz des Südens nicht. Das spanische Direktoriumsmitglied Luis de Guindos etwa ist eher konservativer Natur als Geldpolitiker. Außerdem zeichnet der Spanier für die europäische Bankenaufsicht verantwortlich. Er kennt die unerwünschten Nebenwirkungen der ultralockeren Geldpolitik also aus nächster Nähe. Ferner erinnere ich daran, dass Spanien ein wichtiger Bankenstandort ist. So ist etwa die spanische Banco Santander nach BNP Paribas die größte Bank der EU. So gilt: Eine Zinswende wäre für die spanische Volkswirtschaft sicherlich nicht nur nachteilig.
Philip Lane hingegen, der Chefvolkswirt der EZB, spricht sich momentan noch für eine Fortsetzung der ultralockeren Geldpolitik aus. Sein Standpunkt ist allerdings nicht in Stein gemeißelt. Und sein Heimatland Irland gehört gemessen an der Verschuldung zu den Musterländern der Euro-Zone. Dublin kann also mit ein oder zwei Zinsschritten der EZB immer leben.
Was macht eigentlich die Chefin? Bislang hat Madame Lagarde in dieser Frage wenig Profil gezeigt. Sie moderiert eher und hält den Laden zusammen. Die Position Frankreichs ist momentan noch nicht klar. Fest steht aber, Präsident Macron steigt nächstens in den Wahlkampf um die Präsidentschaft ein. Und Inflation ist kein Turbo für den Wahlkampf des Amtsinhabers. Möglicherweise wird sich der mächtige Franzose nächstens also auch auf die Seite der konservativen Geldpolitik schlagen, um seinen Landsleuten wieder bessere Preise zu versprechen.
Lange Rede kurzer Sinn: Die Inflation ist da und sie wird zunächst bleiben. Damit ist die Büchse der Pandora geöffnet. Nach den USA wird also auch Europa von Zinsspekulationen erfasst. Diese neue Konstellation aus steigenden Preisen und Zinsen muss man als Anleger im Blick haben. Das wird der entscheidende Einflussfaktor für das Börsenjahr 2022.
Wir wünschen Ihnen ein sonniges und erholsames Wochenende.
Thomas Boldt und das gesamte Team von Gies & Heimburger